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Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für die Therapie von Lungenkrankheiten

Was ging der Gründung der WATL voraus?

Was bewegte die Gründungsmitglieder im Jahre 1963, eine „Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für die Therapie von Lungenkrankheiten“ (WATL) zu gründen? Immerhin gab es die Phthisiologie, quasi die Vorläuferin der heutigen Pneumologie, schon seit über 100 Jahren, wenn man unser Fach als moderne wissenschaftliche Erforschung der Tuberkulose und ihrer Therapie versteht und mit Hermann Brehmers Ausspruch „Tuberculosis primis in stadiis semper curabilis“ [1] beginnen lässt. 1882 gelang es dem Mikrobiologen Robert Koch, das Mycobacterium tuberculosis als Erreger dieser Infektionskrankheit nachzuweisen. Weitere medizinische Disziplinen, so die Pathologie, die Chirurgie, der Öffentliche Gesundheitsdienst, waren an der Forschung über die Tuberkulose und der Bekämpfung der Krankheit beteiligt. Mit ihrer Hilfe konnte die Krankheitshäufigkeit (Morbidität, Inzidenz) in erheblichem Maße kontinuierlich reduziert werden. Der endgültige weltweite Durchbruch zur Heilung der Tuberkulose gelang den Biochemikern (u.a. Gerhard Domagk [2]) mit der Entwicklung wirksamer Medikamente in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Die wissenschaftliche Fundierung dieser Entwicklung – vor allem durch die segensreiche antituberkulöse Chemotherapie (medikamentöse Tuberkulose-Therapie) – war in Deutschland Mitte des vorigen Jahrhunderts ungenügend und mit grundsätzlichen Problemen behaftet. Es erscheint sinnvoll, hierzu den Initiator der WATL, Friedrich Trendelenburg, damals noch Chefarzt des Sanatoriums Wolfgang der Stiftung „Deutsche Heilstätte Davos und Agra“, ausführlich zu zitieren:

„Die moderne Chemotherapie der Tuberkulose ist heute auch für den Fachkollegen in ihren ‚Einzelheiten‘ kaum mehr überschaubar. Wir erinnern dabei an die Fülle experimenteller Ergebnisse, an die Zahl und Wirkungsunterschiede der Medikamente wie auch die Vielfalt der Kombinationen, an die diffizilen Dosierungskontrollen über Blut- bzw. Urinspiegel, an komplizierte Kontrollen der Nebenwirkungen und schließlich an die bakteriellen Probleme (Resistenz, partielle und totale Kreuzresistenzen, atypische Erreger usw.). Hieraus resultieren vermehrte Schwierigkeiten für die Prüfung neuer Chemotherapeutika. Umso bedeutsamer, aber auch verantwortungsvoller ist bei dieser Situation jede Publikation über neue chemotherapeutische Erfahrungen. Wissenschaftliche Ehrlichkeit verlangt, daß derartige Arbeiten genaue und vollständige Angaben über die ‚Versuchsanordnung‘ enthalten und dabei bestimmten kritischen Voraussetzungen genügen. Die Notwendigkeit exakter klinischer Prüfung von Medikamenten, die oft monate- oder gar jahrelang gegeben werden, steht heute außer Zweifel. Obwohl solche Forderungen schon seit Jahrzehnten erhoben wurden, ignorierte die große Mehrzahl von 22 chemotherapeutischen Arbeiten zur Tuberkulose, die in den letzen 3 Jahren in der deutschsprachigen Fachliteratur erschienen, wenigstens ein oder zwei derjenigen Kriterien, die wir für schlüssige Ergebnisse voraussetzen müssen. Es handelt sich um folgende methodischen Postulate (in Klammern jeweils die Zahl der Arbeiten, die in dem betreffenden Kriterium nicht genügten):

  1. Genaue und vollständige Deklaration der methodischen Anordnung (11).

  2. Ausreichende Fallzahl (je nach Krankengut, mindestens aber 50) (6)

  3. Art und Homogenität des Krankengutes (9).

  4. Einheitliche und ausreichende Dosierung (2).

  5. Mindestdauer der Medikation von 3 Monaten kontinuierlich (8).

  6. Monotherapie mit neuem Chemotherapeutikum, nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig (6).

  7. Vermeidung einer Kombination mit stark wirksamen Medikamenten, die eine Erfolgsbeurteilung erschweren (5).

  8. Vermeidung alternierender, vor allem stärker wirksamer Kombinationen während der Prüfphase (7).

  9. Angabe der bakteriellen Resistenz gegenüber bisherigen Mitteln, besonders, wenn sie zur Kombination herangezogen werden (9).

  10. Elimination sog. Mitursachen, vor allem aktiver Therapie (1).

  11. Schlüssige, möglichst quantitative Beurteilungskriterien (7).

  12. Vergleichsbasis, bei chronischen Tuberkulosen durch Vorbeobachtung, bei Frischfällen durch parallele oder retrospektive Kollektive (21).

Es wird angeregt, derartige Voraussetzungen zur Abfassung und Publikation chemotherapeutischer Arbeiten für verbindlich zu erklären.“

Die Kritik richtete sich also gegen im deutschen Sprachbereich erschienene Publikationen mit angeblich schlüssigen Aussagen über Wert und Ergebnis therapeutischer Prüfungen. Jedoch fehlten fast allen die methodischen Voraussetzungen, wie sie schon P. Martini [4] publiziert hatte und in angloamerikanischen Studien seit Längerem unentbehrlich waren. Diese waren bei der Ermittlung des chemotherapeutischen Nutzens – z.B. bei der Tuberkulose – der Veterans‘ Administration (USA) und des British Medical Research Council unabdingbar. Wegen der Inhomogenität des Krankengutes und der unterschiedlichen ergänzenden Behandlung benötigten Medikamentenprüfungen Fallzahlen, die die Möglichkeiten einer einzelnen Klinik überschritten.

Im Vordergrund der Überlegungen standen
demnach,

  • exakte klinische Prüfungen von Medikamenten zu initiieren,
  • kontrollierte multizentrische Studien durchzuführen, um auf genügende Patientenzahlen zu kommen,
  • genaue methodische Voraussetzungen zu beachten bzw. zu schaffen und in Publikationen offen darzulegen,
  • moderne statistische Verfahren zu verwenden, um zu eindeutigen, aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen – z.B. unter welchen Bedingungen solche Ergebnisse auch bei kleinen Fallzahlen erreichbar sein können.

Fußend auf den grundlegenden Arbeiten Martinis [4-6] befassten sich in den deutschsprachigen Ländern neben Trendelenburg [7] auch andere Forscher aus dem Kreis der WATL im Laufe der Jahre mit diesen Fragen, vor allem K. L. Radenbach [8], I. Schütz [9] und K. Bartmann [10]. Bartmann und Kropp [10] haben später die Probleme in der Rückschau umfassend dargestellt. Dabei haben sie in einer umfangreichen Literaturübersicht zeigen können, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Grundlagen der Durchführung und Publikation chemotherapeutischer Untersuchungen schon in den 1940er-Jahren vorwiegend in den angelsächsischen Ländern begann.
In der Festschrift „25 Jahre WATL“ wurden diese Probleme nochmals deutlich angesprochen.

Die WATL wurde gegründet
„mit dem Ziel, neue Behandlungsformen von Krankheiten der Atmungsorgane in multizentrischen kontrollierten Studien auf ihre Wertigkeit zu prüfen.
Anlass war in fast allen im deutschen Sprachbereich erschienenen einschlägigen therapeutischen Studien ein Mangel an methodischen Voraussetzungen für schlüssige Aussagen über den Wert von Therapieverfahren. Insbesondere waren es die zur Beantwortung der jeweiligen Fragestellung unzureichenden Patientenzahlen homogener Kollektive, die von einer einzelnen Klinik kaum beigebracht werden konnten. Als Ausweg boten sich Arbeitsgemeinschaften von Kliniken analog denen der US-Veterans-Administration oder des British Medical Research Council an.“
[11, S. 1].

Es ist wohl wahrscheinlich, dass die „verspätete“ Beschäftigung mit den Grundlagen und Voraussetzungen der chemotherapeutischen Forschung in Deutschland im Vergleich zum weltweiten wissenschaftlichen Mainstream eine Folge der Abschottung der Wissenschaft während der NS-Zeit und des 2. Weltkrieges gewesen sein dürfte.

[Autor: Robert Kropp]

Literatur

  1. Brehmer H. Die chronische Lungenschwindsucht und die Tuberkulose der Lungen. 1. Auflage 1857
  2. Domagk G, Offe HA, Siefken W. Ein weiterer Beitrag zur experimentellen Chemotherapie der Tuberkulose (Neoteben). Dtsch Med Wschr 1952; 77: 573–578
  3. Trendelenburg F. Vorschlag zu interklinikalen Gemeinschaftsarbeiten für Chemotherapie. Beitr Klin Tuberk 1963; 127: 235–236
  4. Martini P. Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung. Berlin 1947
  5. Martini P. Die Gesetze der Prüfung von Heilmitteln bei Lungentuberkulose. Beitr Klin Tuberk 1963; 84: 86–98
  6. Martini P. Methodenlehre der therapeutisch-klinischen Forschung. 3. Auflage. Berlin 1962
  7. Trendelenburg F. Über die Qualität chemotherapeutischer Veröffentlichungen. Beitr Klin Tuberk 1963; 127: 323–326
  8. Radenbach KL. Die Bewertung kontrollierter klinischer Prüfung bei der Chemotherapie der Tuberkulose. Prax Klin Pneumol 1967; 31: 71–74
  9. Schütz I. Die Bedeutung kontrollierter klinischer Prüfungen für die Praxis der Chemotherapie der Lungentuberkulose. Prax Pneumol 1977; 31: 71–74
  10. Bartmann K. Die Grundlagen der klinischen Prüfungen von Medikamenten. Fortb Thoraxkrankh 1978, S. 90–99
  11. Bartmann K, Kropp R. Zu Geschichte und Theorie der therapeutisch-klinischen Forschung bei chronischen Krankheiten am Beispiel der Chemotherapie der chronischen Lungentuberkulose. Pneumologie 2009; 63: 31–40
  12. Trendelenburg F, Forschbach G, Schütz I, Jungbluth H. 25 Jahre kontrollierte multizentrische Studien der W.A.T.L. In: WATL. 25 Jahre Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für die Therapie von Lungenkrankheiten e. V. Eigendruck o. J. S. 1–7



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